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Götz
Friedrich während einer Probe zu
Moses und Aron von Arnold Schönberg,
Berlin 1999 [ISS, Nr. 32] |
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Die Oper übt heute eine neue, besondere Faszination aus. Wir
vergegenwärtigen uns Vergangenes, und Neues wird zum Gleichnis. Wie
seit nahezu 400 Jahren verbinden sich Musik und Theater zu dem
aufregenden Abenteuer, das wir Musiktheater nennen. Die Neugier, das
Interesse des Publikums beweisen, daß Musiktheater den Nerv unserer
Ängste und unserer Hoffnungen, unserer Sehnsüchte und Utopien treffen
kann. Es ist Zeit für die Oper!
Komponisten, Dirigenten, Regisseure, Bühnenbildner programmieren und
schaffen mit ihren Werken und Inszenierungen die Aufführung, die aber
lebendig wird allein durch den Sänger, durch die Sängerin. Der
singend-handelnde Mensch: Er ist noch immer das Phänomen, das es in
keiner anderen Kunstgattung gibt, in ihm verkörpert sich am ehesten
Chance und Wunder des Musiktheaters, wenn es von Menschen Geschichten
erzählt, die mit Worten allein nicht erzählbar sind, sondern deren
weitere Dimension Musik, der Gesang eröffnet.
Dem ist man auf der Spur, wenn man inszeniert. Und es gibt unter den
Sängern wiederum einige, die den Regisseur zu solcher Suche besonders
stimulieren, die Medium und Herausforderung zugleich sind als
Persönlichkeiten besonderer Art. Das heutige Interesse an der Oper
hängt zweifellos ganz wesentlich damit zusammen, daß immer mehr Sänger
zu bedeutenden Menschendarstellern werden, deren Rollengestaltung im
Gesang gipfeln will und soll.
Das ist ein reizvoller, komplizierter und im Ergebnis oft
überwältigender Prozeß. Ingrid Schaar hat ihn beobachtet, gebannt.
Sie begleitete viele meiner jüngsten Inszenierungen:
In der Deutschen Oper Berlin Lulu und Aida 1982,
Korngolds Tote
Stadt 1983, in Hamburg Berlioz Les Troyens 1982 und in
Stuttgart eine meiner liebsten Arbeiten: den Rosenkavalier
1981. Und natürlich auch Parsifal 1982 in Bayreuth. Oft konnte sie den Sängerdarstellern
nicht nahe genug rücken. Noch in der Seitengasse fühlte sie sich
distanziert. Sie wurde Teil des schöpferischen Probenvorgangs,
integrierte sich ins Geschehen, das sie aus unmittelbarster Nähe nun
doch wieder zu distanziert-konkretisierter Skizzierung brachte.
Das bestürzend und beglückend Künstlerische ihrer Arbeiten sehe ich
darin, daß sie in ihren Sänger/Rollen-Portraits den Ton zu Gestus
bannt und im Gestischen die Musik fortklingen läßt. Einige der
wichtigsten, der im Umkreis meiner Arbeit profiliertesten Sängerinnen
und Sänger der heutigen Musikbühne beobachtend, hat Ingrid Schaar dem
Phänomen des singend-handelnden Menschen Zeichen gesetzt, die - von
höchstem eigenen Wert – die Lücke füllen, die wir oft zwischen der
Fotografie und der Tonaufnahme empfinden, wenn wir festhalten möchten,
was ja doch kaum zu bannen ist: das momentane Ereignis der
Menschendarstellung im konkreten Gesang.
Die Spanne zwischen Gestern und Morgen, zwischen dem Hier und dem
Anderswo, dem Einst und dem Jetzt: Dieses eigentliche Thema der Oper
hat Ingrid Schaar festgehalten in den Menschen, die dieses Thema
inkarnieren. Und sie hat uns damit die Aufgabe und das Wunder der Oper
umso klarer gemacht. Und sie hat vielleicht auch unsere Lust darauf
neu geweckt. Das ist ebenso dankens- wie staunenswert.
Götz Friedrich, ohne Datum [1983]
Typoskript im Götz-Friedrich-Archiv, Nr. 395
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